15.09.2017

Pro und Kontra zum Familienwahlrecht

Sollen Eltern für Kinder wählen?

Seit Jahren fordern namhafte Politiker und Verbände ein Familienwahlrecht. Eltern sollen für ihre Kinder bei der Bundestagswahl stimmen dürfen. Sonst würden die Interessen von Kindern nicht ausreichend gehört. Wir brauchen ein Familienwahlrecht, sagt der Jurist Hermann Heußner. Sein Kollege Rainer Wernsmann hält dagegen.


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Braucht Deutschland ein Familienwahlrecht, damit die Interessen von Kindern in der Politik besser berücksichtigt werden? Foto: kna


PRO

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Hermann Heußner ist Professor für Öffentliches
Recht an der Hochschule Osnabrück. 
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Wir leben in einer Demokratie. Da geht alle Macht vom Volke aus, heißt es in unserem Grundgesetz. Wirklich? Bei uns sind zwölf Millionen Staatsbürger, nämlich alle Jugendlichen und Kinder unter 18 Jahren vom Wahlrecht zum Bundestag ausgeschlossen. Von ihnen geht die Staatsgewalt nicht aus. Dies verstößt gegen den fundamentalen Gleichheitssatz der Demokratie, die Allgemeinheit der Wahl: Jeder und jede muss wählen dürfen. Die Demokratie fordert deshalb das Wahlrecht ab Geburt. Diese Forderung erscheint abenteuerlich. Aber die Geschichte der Demokratie ist ein Kampf um Forderungen, die vielen zunächst abenteuerlich erschienen, heute aber selbstverständlich sind und bei denen man sich zu Recht fragt, wie es je anders sein konnte: Arme dürfen wählen, Frauen dürfen wählen (erst ab 1918), die Stimme ist für alle (Erwachsene) gleich.

Das Wahlrecht von Geburt fordert zweierlei: Zwischen 14 und 18 müssen die Jugendlichen ihr Wahlrecht selbst ausüben dürfen. In der modernen, digitalisierten Welt kennt sich diese Altersgruppe häufig viel besser aus als viele Ältere. Bei diesen prüft auch keiner nach, ob sie noch hinreichende Einsichts- und Urteilsfähigkeit über die Welt von heute haben. Außerdem mutet unsere Rechtsordnung den Über-14-Jährigen schon viel Verantwortung zu. Am gravierendsten ist es im Strafrecht. Denn ab 14 beginnt grundsätzlich die Strafmündigkeit. Und die Religionsmündigkeit. Diese bürdet den Jugendlichen die Verantwortung für ihr Seelenheil auf. Wer so in die Pflicht genommen wird, muss auch mitbestimmen dürfen.

Für die Kinder zwischen 0 und 14 müssen die Eltern das Wahlrecht stellvertretend ausüben dürfen. Niemand weiß so gut wie sie, die Interessen ihrer Kinder zu vertreten. Deshalb haben die Eltern faktisch auch kein Mehrfachstimmrecht. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie die Ausübung der Kinderstimme von den objektiven Interessen ihrer Kinder und nicht ihren eigenen Interessen abhängig machen. Gewiss: Es gibt Eltern, die dazu nicht in der Lage oder willens sind. Das ist aber eine Minderheit.


"Wer nicht wählen darf, kommt unter die Räder"

Das Stellvertreterwahlrecht scheitert auch nicht daran, dass das Wahlrecht im Regelfall nur höchstpersönlich ausgeübt werden darf. Denn die Höchstpersönlichkeit, wonach nur der Wahlrechtsinhaber selbst wählen darf, ist nicht ewigkeitsgarantiert. Und die Stellvertretung im Wahlrecht bleibt auf den Ausnahmefall des Kinderwahlrechts beschränkt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Eltern höchstpersönliche Grundrechte für ihre Kinder stellvertretend ausüben. Dies gilt fundamental in der Babytaufe, in der das Kind auf Bitten der Eltern, die das weltliche Grundrecht auf Religionsausübung bzw. das kirchliche Grundrecht des Kindes auf Taufe an dessen Stelle wahrnehmen, in die Kirche aufgenommen wird. Den Praxistest hat das elterliche Stellvertreterwahlrecht schon bestanden. Verschiedene katholische Bistümer lassen es bei den Pfarrgemeinderatswahlen zu. Und die Standardfrage: „Was geschieht denn, wenn sich die Eltern nicht einigen können?“, stellt sich gar nicht. Denn jeder Elternteil übt unabhängig vom anderen für jedes Kind eine halbe Kinderstimme aus.

Wahlen haben die wesentliche Funktion, dass die Interessen aller Staatsbürger zum Zuge kommen. Da Kinder nicht wählen können, kommen ihre Interessen zu kurz. Der schlagende Beweis ist die Kinderarmut: Knapp 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen sind auf Hartz IV angewiesen. Bei den Rentnern benötigen nur gut fünf Prozent Grundsicherungsleistungen. Wegen des demografischen Wandels wird in Zukunft die Übermacht der Älteren noch größer. Man sieht also: Wer nicht wählen darf, kommt unter die Räder. Das Wahlrecht von Geburt an muss schleunigst ins Grundgesetz.

Von Hermann Heußner

 

KONTRA

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Rainer Wernsmann ist Professor für Staats- und
Verwaltungsrecht an der Universität Passau.
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In der Diskussion über das Familienwahlrecht wird darauf verwiesen, dass die politische Durchsetzungsmacht von Familien gestärkt werden soll. Das allein ist aber kein tragfähiger Grund. In einer Demokratie werden Stimmen nur gezählt und nicht gewichtet. Jeder Mensch hat denselben politischen Einfluss, jeder hat eine Stimme („one man, one vote“). Die Stimme ärmerer Wähler zählt gleich viel wie die Stimme reicherer Menschen. Älteren Wählern kommt dasselbe Stimmgewicht zu wie jüngeren. Vermeintlich oder tatsächlich intelligentere Wähler haben denselben politischen Einfluss wie vermeintlich oder tatsächlich dümmere. Die Demokratie kennt nur die strikt formale Gleichheit. Dagegen sah das preußische Dreiklassenwahlrecht im 19. Jahrhundert noch ein größeres Stimmgewicht vor, je höher die eigene Steuerlast war; die reicheren Wähler sollten vor den Entscheidungen der ärmeren geschützt werden – heute eine undenkbare Argumentation.

Jetzt könnte man freilich einwenden: „One man, one vote“ – die Stimmen der Minderjährigen fallen derzeit unter den Tisch. Würde also die Stimmabgabe der Eltern für die Minderjährigen dafür sorgen, dass auch diese eine Stimme erhalten und damit im Deutschen Bundestag repräsentiert wären?

Einen politischen Willen kann nur bilden, wer die notwendige Einsichtsfähigkeit besitzt. Der Säugling hat diese ganz sicher nicht. Räumt man seinen Eltern eine zusätzliche Stimme ein, die diese stellvertretend für ihn abgeben können, so erhalten die Eltern ein verkapptes Mehrfachstimmrecht, dessen Ausübung im Hinblick auf das Kindeswohl gerichtlich nicht kontrolliert werden kann. Der politische Wille kann nur höchstpersönlich vom jeweiligen Wähler selbst und nicht von einem Stellvertreter gebildet werden, alles andere führt zu einer im Hinblick auf das Demokratieprinzip nicht hinnehmbaren Gewichtung von Stimmen. Mit anderen Worten: Eltern hätten zwei oder mehr Stimmen, das Kind hätte weiter keine Stimme.


"Eltern hätten zwei Stimmen, das Kind weiter keine"

Folgeprobleme würden sich stellen: Was ist mit den Stimmen von unter Betreuung Stehenden? Soll diese der Betreuer abgeben können? Wie soll beim Familienwahlrecht die Abstimmung zwischen den Eltern ablaufen? Sollen diese gegenseitig offenbaren müssen, wem sie die Stimme des Kindes geben wollen? Das wäre im Hinblick auf die verfassungsrechtlich ebenfalls unabdingbare Geheimheit der Wahl nicht zulässig. Sollen beide Elternteile je eine halbe Stimme bekommen? Auch das erscheint sehr zweifelhaft. Eine Rückbindung an den Willen des Kindes kommt keinesfalls in Betracht – entweder ist es reif genug, selbst am politischen Willensbildungsprozess mitwirken zu können, dann sollte es selbst ein eigenes Stimmrecht erhalten; oder es ist nicht reif genug, dann können die Eltern aber auch nicht verpflichtet sein, den vom Kind artikulierten Wunsch zu befolgen.

Sind nun Gruppen, die tatsächlich oder vermeintlich strukturell in der Minderheit sind, schutzlos den Entscheidungen der Mehrheit ausgeliefert? Das ist unter dem Grundgesetz nicht der Fall. Die Grundrechte dienen immer auch und gerade dem Schutz von Minderheiten, die sich im politischen Prozess nicht durchsetzen können. Sollten die Belange von Familien verfassungswidrig missachtet worden sein, so wird das Bundesverfassungsgericht diesen – wie schon in der Vergangenheit (z.B. zur realitätsgerechten steuerlichen Berücksichtigung des Existenzminimums von Kindern) – zum Durchbruch verhelfen.

Eine faktische Gewichtung von Stimmen über ein Mehrfachstimmrecht für Eltern berührt zentrale Elemente des Demokratieprinzips. Es ist daher abzulehnen.

Von Rainer Wernsmann