04.05.2015
"Sei still, sonst kommst du ins Heim"
Gewalt in der Pflege ist Alltag und Tabu zugleich. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass in Europa jährlich vier Millionen ältere Menschen misshandelt oder vernachlässigt werden. Ein Webportal bietet nun Möglichkeiten zur Krisenintervention.
Eigentlich fing der Tag ganz harmlos an. Doch irgendwann, kurz vor dem Mittagessen haben sich bei der alten, dementen Frau offenbar ein paar Synapsen im Gehirn verhakt. Sie ruft: „Ich will nach Hause, ich will nach Hause.“ Dann ist sie 20, 30 Sekunden still. Dann wieder „Ich will nach Hause, ich will nach Hause.“ Ihre Tochter erklärt ihr, dass sie daheim ist - einmal, zweimal, hundertmal… Doch die alte Frau ruft weiter und weiter bis irgendwann bei der Tochter alle Sicherungen durchbrennen, und sie nur noch brüllt: „Halt endlich die Fresse, sonst kommst du ins Heim.“ Als auch das nichts fruchtet, rüttelt und schüttelt sie die Mutter, bis diese völlig verängstigt im Bett liegt und nur noch wimmert...
Gewalt in der Pflege – egal ob im Heim oder privaten Umfeld - hat viele Gesichter, weiß der Gerontopsychiater Rolf Hirsch, Gründer von „Handeln statt Misshandeln“, einer Initiative aus Bonn gegen Gewalt im Alter. Drohung mit Heim oder Psychiatrie, Vorwürfe wie „Du machst mein Leben kaputt“, boshafte Beschimpfungen, oder einfach nur die „Missachtung der Bedürfnisse alter Menschen“. Auch die oft engen Zeitfenster für ambulante Pflegedienste haben die Situation zuletzt mehr und mehr verschärft. Immer häufiger werden hilfsbedürftige, alte Menschen von ihren Pflegern brutal gefüttert oder gewaschen, wenn sie nicht sofort spuren. Zur körperlichen Gewalt gehört Schlagen und Schütteln oder die Fixierung mit Gurten ans Bett, sowie die Sedierung mit Medikamenten. Hinzu kommen Vernachlässigung, sogar Nahrungsentzug, finanzielle Ausbeutung.
Zwar gibt es bundesweit bereits mehrere Initiativen, die Krisentelefone betreiben, bei denen Opfer oder Täter (die ja meist ein extrem schlechtes Gewissen haben) anrufen können. Doch meist sind diese Notruftelefone nur an einzelnen Tagen stundenweise besetzt. „Wenn sich jemand überwunden hat, anzurufen, soll er nicht recherchieren müssen, welches Krisentelefon gerade besetzt ist“, sagt Ralf Suhr, Vorstand des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP). Damit die Leute nicht hoffnungslos wieder aufgeben, sich Hilfe zu suchen, hat sein Verband jüngst das Portal „Gewaltprävention in der Pflege“ aufgebaut. Es informiert zu den verschiedenen Formen von Gewalt, beantwortet häufige Fragen und nennt Warnsignale. Auf der Startseite wird darüber hinaus immer die die Nummer eines aktuell erreichbaren Krisentelefons angezeigt. Finanziert und gefördert wird das Portal vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), das vor kurzem auch eine umfassende Studie zur Gewalt in der Pflege herausgegeben hat.
Doppelbelastungen aus Beruf und Pflege führen oft zu explosiver Mischung
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Bietet Hilfe und Beratung auch im Netz: www.pflege-in-not.de |
Insider wissen: Meist beginnt die Teufelsspirale der Gewalt subtil; etwa indem man einem alten Menschen auch Tätigkeiten abnimmt, die dieser noch selbst ausführen könnte; nur weil das dem Helfer nicht schnell genug geht. Untersuchungen belegen zudem, dass viele Angehörigen oft unvorbereitet oder unfreiwillig in die Pflege schlittern. Doppelbelastungen durch Beruf und Pflege, Schulden oder zu enge Wohnungen führen dann in vielen Familien zu einer explosiven Mischung. Auch dauern die meisten Pflegesituationen mit durchschnittlich zehn Jahren viel länger als erwartet, sagt Gabriele Tammen-Parr von der Berliner Beratungsstelle „Pflege in Not“. In vielen Fällen schwelen seit Jahren unausgesprochene familiäre Konflikte. Zudem gießen viele Alten selbst noch Öl ins Feuer. Aus Unsicherheit und Angst vor der eigenen Hilflosigkeit nörgeln sie rum und machen ihren Angehörigen Vorwürfe, wo eigentlich Dankbarkeit angezeigt wäre. Motto: „Du warst schon als Kind zu nichts nutze, und bist es auch heute nicht.“In der professionellen Pflege führen wiederum zu enge Zeitvorgaben, schlechte Bezahlung, Personalnot sowie Konflikte der Kollegen untereinander zu Stress und Überforderung.
Weil sich viele Pflegende isoliert und mit der Aufgabe alleingelassen fühlen, sind die Krisentelefone umso wichtiger. Hier können sich Angehörige entlasten. Erste konkrete Hilfsangebote werden gemacht. Experten wissen schon lange „Stress und Überlastung führen dazu, dass Beziehungen erodieren und Liebe irgendwann in Abneigung und sogar Hass umschlägt.“. Jeder Pflegende braucht auch mal eine Auszeit nur für sich.
Ihr Webreporter Andreas Kaiser