11.09.2012

Gymnasiasten üben eine alte Meditationsform

Geschmack am Gebet wecken

Um innere Ruhe, Einkehr und Spiritualität zu vermitteln, erteilt ein Religionslehrer im Münsterland seinen Schülern eine „Lectio divina“. Die göttliche Lesung ist eine Technik meditativer Bibellesung, die schon die ersten Mönche praktizierten.

Sanfte Klänge instrumentaler Musik erfüllen den Raum. „Wir beginnen jetzt mit unserer Meditation. Sie schließen bitte die Augen und atmen tief ein“, sagt Religionslehrer Christian Renken. Heute steht in einer Oberstufenklasse am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Stadtlohn die Lectio divina auf dem Stundenplan.
Der Pädagoge hat die traditionsreiche Lesung in seiner Jugend bei Pater Anselm Grün in Münsterschwarzach erlernt. „Es ist eine große Hilfe, den Bibeltext inhaltlich zu verstehen und auch für sich allein zu realisieren. Von daher hat sie Wert im ganzen Leben.“ Für junge Menschen, denen Vollzüge des christlichen Glaubens fremd geworden sind, eigne sich dieser geistliche Weg besonders. „Jugendliche sind offen“, meint der 43-Jährige. „Die meisten finden es cool, wenn man etwas anderes macht als normales Lernen. Je exotischer, desto besser!“ Doch zu jung sollten die Schüler nicht sein: Renken empfiehlt die Lectio divina im Religionsunterricht ab Jahrgangsstufe 10.
Die Atmosphäre im Klassenzimmer ist ungewöhnlich. Die Tische wurden beiseitegestellt, die Schüler sitzen in Fünferreihen auf ihren Stühlen. Alle haben eine Schreibunterlage auf dem Schoß, Kopien des Bibeltextes sowie einen Bleistift, um sich Notizen zu machen. Vor ihnen steht ein Kreuz, daneben leuchtet eine Kerze. Christian Renken hat hinten Platz genommen. „Ich möchte den Schülern nicht ins Gesicht gucken, da dies ja ein intimer Vorgang des Gebetslebens ist“, erklärt der Pädagoge. Die Meditationsmusik spielt die gesamte Zeit; seiner Erfahrung nach können die Schüler dabei besser loslassen.

Der Text wird gemurmelt und „wiedergekäut“

In Stunden zuvor stimmt der Lehrer die Jugendlichen auf das Geschehen ein –  zunächst mit Ruheübungen und meditativen Fantasiereisen. Er fordert die Jugendlichen auf, sich auf den Boden zu legen und für einige Minuten zu entspannen. Am Ende einer dieser Ruhepausen liest Renken Psalm 23 vor. „Ich frage die Schüler, wie ihnen das gefallen hat. Und ob sie christliche Meditation kennenlernen möchten, wie sie zum Beispiel noch heute Benediktiner in den Staaten üben.“ Der Verweis auf die USA, gibt Renken zu, sei ein „kleiner Trick“, um das Interesse zu wecken, aber ein wirkungsvolles „Verkaufsargument“.
Eine Lectio divina besteht aus vier Stufen: Lesung (lectio), Wiederkäuung (ruminatio), Gebet (oratio) und Beschauung (contemplatio). „Das ist erklärungsbedürftig. Vor allem der Begriff Wiederkäuung, der früher schlichtweg Wiederholung meinte“, betont Renken. Seine Schüler erfahren zudem, dass die Frühchristen anders lasen. Sie verfolgten den Text nicht nur mit den Augen, sondern murmelten ihn vor sich hin. Diese Art des Lesens fördere die Konzentration, helfe Ablenkungen zu vermeiden und den Inhalt tiefer zu durchdringen.
In vier 45-Minuten-Stunden führt der Lehrer seine Schüler in die Meditationsform ein. Als Bibelstellen eignen sich laut Renken die Psalmen sowie die Christus-Hymnen im Neuen Testament (Philipper 2,6–11/Epheser 1,3–14/1 Korinther 15,3–8/ Johannesevangelium 1,1–18). 

Einige Schüler bitten sogar um Extrastunden

Mit kurzen Hinweisen leitet er durch das Gebet. Er ermuntert dazu, den Text zwei- oder dreimal zu lesen – murmelnd. Danach sollen die Schüler den Text öfter durchlesen und Verse, die sie besonders ansprechen, lauter vor sich hinsagen. Die dritte Stufe ist dem freien Gebet gewidmet. Und in der Beschauung geht es darum, sich zu besinnen, den Blick auf das Kreuz oder die Kerze zu richten und im Idealfall Gottes Gegenwart zu spüren. Nach etwa 25 Minuten beendet Renken die Übung: „Wir kehren wieder zurück in unsere Wirklichkeit mit einer tiefen Verneigung vor dem großen Gott.“
Der Unterricht findet Anklang. Einige Schüler baten sogar um Extrastunden. „Das ist für mich eine Bestätigung. Vielleicht hat man den jungen Leuten die Tür aufgemacht in eine neue Welt.“
Heike Sieg-Hövelmann

Material zur „Lectio divina“: www.bibelwerk.de